Das kritische Hinterfragen und Reflektieren der eigenen Arbeit und Therapie am Patienten gehört in unserer Praxis zum Alltag. Einfache Tools helfen in der täglichen Praxis, einen Therapieeffekt bzw. die Wirksamkeit der erfolgten Behandlung zu erfassen. Ohne einen Wirksamkeitsnachweis wird eine Anerkennung für ein Berufsbild wie das der Osteopathie schwer. Wissenschaftliche Studien, in welchen zu bestimmten Krankheitsbildern der osteopathische Behandlungsansatz gegenüber einer Scheinbehandlung (Plazebo) oder aber einer bereits etablierten Therapie untersucht wird, sind hierfür notwendig. Gibt es mehrere Studien zu einem Krankheitsbild, welche eine Wirksamkeit belegen, spricht man von Evidenz. Die evidenzbasierte Medizin beschreibt einen gewissenhaften, ausdrücklichen und vernünftigen Gebrauch der gegenwärtig besten für den Patienten verfügbaren Versorgung, auf Basis wissenschaftlicher Studien (https://www.cochrane.de/ebm). Seit 2006 engagieren wir uns in diesem Bereich für Sie, die Wissenschaft und die Osteopathie.
Studie Osteopathie bei zervikogenem Kopfschmerz- OZKS_I und OZKS_II
Seit 2015 forschen wir aktiv zum Thema Kopfschmerzen und Osteopathie. Zwei Studien, die OZKS_I sowie die OZKS_II sollen zum Thema zervikogener Kopfschmerz die Wirksamkeit des osteopathischen Therapieansatzes untersuchen. Im folgenden informieren wir über die Entstehungsmechanismen und bestehende Therapieansätze bei zervikogenem Kopfschmerz, sowie die bereits abgeschlossene OZKS_I sowie die in Planung befindliche OZKS_II.
Über 80 % der erwachsenen Europäer zwischen 18 und 65 Jahren hatten in den letzten zwölf Monaten spannungsbedingte Kopfschmerzen, und 15 % erlitten einen Migräneanfall [1]. In Europa leiden 3,3 % an 15 oder mehr Tagen im Monat an Kopfschmerzen [1]. Fünf bis zwanzig Prozent der krankheitsbedingten Arbeitsausfälle waren zu Anfang des Jahrhunderts in Dänemark und den USA auf Kopfschmerzen zurückzuführen [2, 3], in Europa konnten diesbezüglich 15 % der Erwachsenen zeitweilig nicht ihrer Arbeit nachgehen [1]. Zervikogene Kopfschmerzen (engl. Cervicogenic Headache, CGH) sind mit 0,4 bis 15 % [4] innerhalb der Kopfschmerzpopulation als eine der häufiger vorkommenden Kopfschmerzformen vertreten [1]. Frauen sind hierbei bis zu viermal mehr betroffen [5]. Patienten mit zervikogenem Kopfschmerz zeigen erhebliche Einschränkungen ihrer Lebensqualität [6]. Evers et al. [7] vergleichen in der Leitlinie der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft den hierdurch entstehenden Grad der Behinderung analog zu Kopfschmerzen vom Spannungstyp. Zervikogener Kopfschmerz zählt zu den sekundären Kopfschmerzformen, diagnoseführend ist eine Störung oder Läsion insbesondere der oberen Halswirbelsäule, welche mit einem Bewegungsverlust einhergeht [8, 9]. Es bestehen verschiedene Therapieansätze aus den Bereichen der Schulmedizin, dem sportwissenschaftlichen Bereich, sowie aus der Physiotherapie bzw. der Manuellen Medizin. Das Therapieangebot fächert von der symptomgebundenen Nutzung von Schmerzmitteln aus der Gruppe der nichtsteroidalen Antirheumatika über aktive Dehn- und Trainingsprogramme der Halswirbelsäulenmuskulatur [10, 11, 12, 13] zu passiven Therapien wie Mobilisationen oder Manipulationen der Halswirbelsäule [11, 13, 14, 15, 16]. Ungeklärt ist bis dato, inwiefern Patienten mit zervikogenem Kopfschmerz durch den Osteopathischen Behandlungsansatz (engl. Osteopathic Manipulative Treatment, OMT) profitieren. Dabei scheint der osteopathische Behandlungsansatz bei Patienten mit zervikogenem Kopfschmerz durchaus Potential zu bieten [17].
Demnach existiert laut Autor aktuell keine Literatur, welche die Wirksamkeit von Osteopathisch manipulativer Therapie bei Patienten mit zervikogenem Kopfschmerz beschreibt. Ebenso wenig findet sich Literatur zur Wirksamkeit von Osteopathisch manipulativer, befundorientierter Behandlung in Kombination mit standardisierten, aktiven Dehn- und Trainingsprogrammen bei zervikogenem Kopfschmerz. Ziel der OZKS_I war es, die Wirksamkeit von Osteopathisch manipulativer Therapie (OMT) im Vergleich zu einer Plazebogruppe zu untersuchen. Die Daten dieser Studie wurden bereits statistisch aufbereitet und die Publikation der Ergebnisse in einem Fachjournal steht bevor.
Die noch in Planung befindliche OZKS_II baut auf der OZKS_I auf. Ziel der OZKS_II ist es, die Wirksamkeit von fünf OMT-Behandlungen gegenüber einem standardisierten, aktiven Dehn- und Trainingsprogramm aus dem sportwissenschaftlichen Konzept zu untersuchen. Aktuell sind wir mit der OZKS_II in der Planungsphase, angestrebt ist Mitte 2022 mit der praktischen Untersuchung zu beginnen. Wir halten Sie über diesen Blog auf dem Laufenden. Die Ergebnisse sind für alle in der Praxis tätigen Osteopathen sowie für Sportwissenschaftler, Ärzte und Therapeuten aus angrenzenden Therapiebereichen von Interesse.
Ansätze in der Therapie
Die Ätiologie von zervikogenem Kopfschmerz begründet sich in einer Störung im Bewegungssystem insbesondere der oberen Halswirbelsäule [6, 7, 8, 9, 19]. Hauptsächlich von der Bewegungseinschränkung betroffen ist hierbei das Bewegungssegment C1-2 [8]. Ebenso zeigen Patienten mit zervikogenem Kopfschmerz vermehrt posturale Änderun- gen bezüglich einer vermehrten Kopfvorhalteposition und hypertonen Nackenextensoren [10] sowie einer schlechteren Ausdauerfunktion der tiefen Nackenflexoren [10, 20, 21]. Sahrmann, Azevedo & Dillen 2017 [22] beschreiben in Ihrem Konzept, dass Syndrome, welche durch eine Störung im Bewegungssystem hervorgerufen werden (engl. Movement System Impairment Syndrome, MSIS), mit Mikro- oder auch Makrotraumata sowie einer länger anhaltenden, ungünstigen Haltung und monotonen Bewegungsmustern in eine spezifische Richtung einhergehen. Unter dem Faktor Zeit gehen diese mit pathoanatomischen Änderungen im muskuloskelettalen System und einer schlechteren neuromuskulären Steuerung einher. Der Behandlungsansatz besteht im Verbessern der Fehlhaltung und Modifizieren der ungünstigen Bewegungsmuster. In der osteopathischen Philosophie wird der Körper als Funktionseinheit betrachtet, der
Körper besitzt die Fähigkeit zur Selbstregulierung. Die Körperfunktionen sind von einer „freien“ Ver- und Entsorgung der Gefäß- und Nervenstraßen abhängig. Treten Störungen in Form von Bewegungseinschränkungen des Bindegewebes - somatischen Dysfunktionen - auf, können diese durch manuelle Techniken behandelt werden. Somit soll die Selbstregulation unterstützt werden. Man unterscheidet für Diagnostik und Therapie
drei miteinander vernetzte Systeme: das parietale (muskuloskelettale), das viszerale sowie das kraniosakrale System. Der Therapieansatz erfolgt je nach manuell erhobenem Befund auf allen drei Systemen. [23]
1.1 Zervikogener Kopfschmerz und Osteopathie
Aktuell ist eine Einschätzung zur Evidenz bezüglich Osteopathie und zervikogenem Kopfschmerz aufgrund der spärlichen Studienlage nicht möglich. Eldridge & Russel [24] beschreiben in Ihrer Falldarstellung einer 26-jährigen Patientin mit zervikogenem Kopfschmerz eine Verringerung von Kopfschmerzfrequenz und -intensität unter Osteopathisch manipulativer Therapie in Kombination mit einem Training der tiefen Nackenflexoren. Unter dem Oberbegriff Zervikalneuralgie (engl. cervicalgia), findet sich immerhin ein systematischer Review.
Franke et al. [25] untersuchte darin den Effekt von Osteopathisch manipulativer Therapie auf chronisch unspezifische Nackenbeschwerden. Es fanden sich nur drei randomisierte, kontrollierte Studien (RCT) mit kleiner Stichprobe. Mittels Metaanalyse konnte zwar eine signifikante Besserung durch Osteopathisch manipulative Therapie belegt werden, eine Aussage bezüglich zervikogenem Kopfschmerz lässt sich hieraus jedoch nicht ableiten.
1.2 Zervikogener Kopfschmerz und aktive Dehn- und Trainingsprogramme
Unter dem Oberbegriff Zervikalneuralgie in Kombination mit aktiven Übungsprogrammen existieren zwei aktuelle systematische Übersichtsarbeiten vom Cochrane Zentrum. Gross et al. [26] bewerteten die Evidenz von Bewegungsübungen bei mechanisch bedingten Nackenbeschwerden. Folgendes Bild stellt sich dar:
Es besteht Evidenzlevel C - in dem beschriebenen RCT konnten Patienten mit zervikogenem Kopfschmerz mittels selbsterlernter Eigenmobilisationen, dem gehaltenen natürlichen Facettengelenkgleiten, die Kopfschmerzsymptomatik positiv beeinflussen [14]. Moderate Evidenz besteht für den Effekt eines Heimübungsprogramms bzw. Trainings der tiefen Nackenflexoren in Kombination mit Stretching. Es reduzierte den Schmerz bei Patienten mit zervikogenem Kopfschmerz über einen Zeitraum von einem Jahr. [26]
Der zweite Cochrane Review von Gross et al. [11] gibt einen Überblick über Manipulationen an der Hals- und Brustwirbelsäule im Vergleich zu inaktiven Kontrollgruppen oder aktiven Behandlungen. Der Evidenzlevel für die Schmerzreduktion bei Patienten mit akutem und subakuten Nackenbeschwerden war moderat. Die Verbesserung von Funktion und Einschränkung erwies sich ebenfalls moderat. Erwähnenswert ist die randomisierte, klinisch kontrollierte Studie von Bronfort [15], welche Manipulationen der Halswirbelsäule einem aktiven Trainingsprogramm gegenüberstellt. Bronfort (ebd.) beschrieb in beiden Gruppen eine moderate Verbesserung bezüglich Schmerz, Funktion, Lebensqualität und Patientenzufriedenheit. Bezüglich der Patientenzufriedenheit konnte Bronfort (ebd.) im Zwischengruppenvergleich eine ebenfalls moderate Verbesserung zugunsten der Manipulationsgruppe darstellen.
Zusammenfassend kann keine belastbare wissenschaftlich belegte Aussage zur Effektivität von Osteopathisch manipulativer Therapie bezüglich zervikogenem Kopfschmerz getroffen werden. Ebenso wenig findet sich Literatur, in welchem der Effekt von Osteopathisch manipulativer Therapie gegenüber einem aktiven Dehn- und Trainingsprogramm verglichen wird. Auch ist offen, welchen Effekt die Kombination von Osteopathisch manipulativer Therapie in Kombination mit einem aktiven Dehn- und Trainingsprogramm bei Patienten mit zervikogenem Kopfschmerz zeigt. Inwiefern durch Osteopathisch manipulative Therapie auch unerwünschte Nebenwirkungen durch die Behandlung entstehen, welche Kosten durch diese anfallen, in welchem Rahmen Arbeitsausfall und Lebensqualität beeinflusst werden können, kann zu diesem Zeitpunkt nicht beantwortet werden. Weiterhin finden sich keine validen Daten über den Umfang oder die Frequenz der Behandlung mittels Osteopathisch manipulativer Therapie. Selbiges gilt für die Osteopathisch manipulative Therapie in Kombination mit einem aktiven Dehn- und Trainingsprogramm zur Behandlung von zervikogenem Kopfschmerz.
Um den Effekt von Osteopathisch manipulativer Therapie sowie den Effekt eines standardisierten, aktiven Dehn- und Trainingsprogramms auf die Beweglichkeit der Halswirbelsäule sowie den Kopfschmerz bei Patienten mit zervikogenem Kopfschmerz zu untersuchen, sollen zwei randomisierte, kontrollierte klinische Studien durchgeführt werden. Die Daten aus der ersten Studie „Osteopathie bei zervikogenem Kopfschmerz-OZKS“ liegen bereits vor. Darin wurden insgesamt 426 Patienten mit zervikogenem Kopfschmerz mittels Blockrandomisierung je einer Treatment- oder Plazebogruppe zugeteilt. Aufbauend auf einem standardisierten Befund, einer Bewegungsvermessung der Halswirbelsäule sowie zweier Fragebögen zu Kopf- und Nackenschmerzen erhielt die Treatmentgruppe drei Osteopathisch manipulative, befundorientierte Behandlungen, die Plazebogruppe drei standardisierte Plazebobehandlungen. Die Therapieeinheit umfasste für beide Gruppen jeweils 45 Minuten. Die Behandlungen erfolgten in einem Messzeitraum von drei Monaten. Die Effekte von Osteopathisch manipulativer Therapie bei Patienten mit zervikogenem Kopfschmerz auf die Beweglichkeit der oberen Halswirbelsäule sowie die Nackenschmerzen wurden statistisch aufbereitet und sind in Zusammenarbeit mit der Universität Leipzig, Abteilung Biomechanik sowie der Technischen Universität Clausthal, Abteilung Bewegungswissenschaften, aktuell auf dem Weg zur Publikation. Die Bewegungserfassung erfolgte mit dem System Cervical Range of Motion (CROM), die Erfassung der Einschränkungen bezüglich der Nackenschmerzen erfolgte mit dem Neck Disability Index (NDI). I
OZKS_II
Die auf der ersten Studie „Osteopathie bei zervikogenem Kopfschmerz-OZKS“ aufbauende, randomisierte, kontrollierte klinische Studie im Waiting-list Design untersucht Patienten mit zervikogenem Kopfschmerz, welche via Computergestützter Blockrandomisierung entweder der Osteopathisch manipulativen Gruppe oder der standardisierten, aktiven Dehn- und Trainingsgruppe zugewiesen und in einem dreimonatigen Intervall behandelt werden. Die OMT-Gruppe erhält innerhalb dieser Zeit fünf Behandlungseinheiten, die AT-Gruppe (aktiven Dehn- und Trainingsprogramm) erhält ebenfalls fünf zeitgleiche Übungseinheiten und die Anweisung, diese zusätzlich zweimal pro Woche als Heimübungsprogramm durchzuführen. Die Kontrolle des Heimübungsprogramms erfolgt via standardisiertem Fragebogen. Hierdurch kann der Kurzzeiteffekt beider Therapien gegenübergestellt werden. Nach diesem dreimonatigen Therapieintervall erfolgt ein Cross-over ohne Wash-out Periode, somit bekommen alle Patienten die gleichen Behandlungskonditionen. Nach dem so erfolgten sechsmonatigen Therapieintervall folgt ein dreimonatiges therapiefreies Intervall, in welchem für beide Gruppen keine Therapie mit Kontaktzeit erfolgt, die Patienten aber ihr erlerntes, standardisiertes, aktives Dehn- und Trainingsprogramm weiterführen. Mit abschließendem Follow-up nach neun Monaten endet die Datenerhebung der Studie. Aus den statistisch aufbereiteten Daten der zweiten Studie werden ebenfalls zwei weitere Publikationen angestrebt. In der ersten Publikation erfolgt die Gegenüberstellung der Kurzzeiteffekte von Osteopathisch manipulativer Therapie zu einem standardisierten, aktiven Dehn- und Trainingsprogramm, in der zweiten die Langzeiteffekte von Osteopathisch manipulativer Therapie in Kombination mit einem standardisierten, aktiven Dehn- und Trainingsprogramm und einem therapiefreien Intervall.
Ab Juno 2022 beginnt die Rekrutierung von Patienten, bis dahin laufen die Vorbereitungen für die Ethikkomission. Einen aktuellen Flyer zur Übersicht der Studie finden Sie hier
Wenn Sie Fragen zur Studie haben, zögern Sie nicht Kontakt über diese Seite aufzunehmen oder per mail an:
stephan_theodor.klemm@uni-leipzig.de
fon: +49(0) 151 1159 8931
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